Wer gewinnt Gerichtsprozesse? Der schlaue Anwalt mit dem Gesetzbuch in der Hand? Oder derjenige, der überzeugende „Beweise“ hat?

Hängt der Ausgang von Prozessen an der Überzeugung des Richters und nicht an der juristisch perfekten Arbeit? Bei vielen Rechtsstreitigkeiten geht es nicht um schwierige Gesetzesauslegungen, sondern um die Beweise. Diese Erkenntnis ist Juristenkreisen Allgemeingut.

Zeugenaussagen sind wichtig für den Ausgang der Prozesse. Der Richter war nicht vor Ort und muss im Gerichtssaal entscheiden. Der Autor erinnert sich noch dunkel an seinen Religionslehrer aus der Schule, der sagte: „Kinder, nirgendwo wird so viel gelogen wie vor Gericht.“ Wir Schulkinder waren geschockt von der bösen Welt der Erwachsenen. Stimmt die These des Religionslehrers?

Stimmt das? Der Wahrheitsbegriff des deutschen Rechts muss definiert werden.

Was ist die Grundlage der richterlichen Entscheidung? Was muss der Richter erforschen? Worum geht es in der Angelegenheit?

Es gibt zwei unterschiedliche Möglichkeiten des Gerichts sich einem Geschehen nachträglich zu nähern: den Amtsermittlungsgrundsatz oder den Beibringungsgrundsatz.

Amtliche Ermittlung

Der Amtsermittlungsgrundsatz bedeutet, dass der Richter aufgefordert ist, von Amts wegen Tatsachen aufzuklären und nachzuforschen und nachzufragen. Der Richter muss die Tatsachen, die für die Entscheidung von Bedeutung sind, klären. Dieser Grundsatz beherrscht z.B. den Strafprozess (hier geregelt im § 244 Absatz 2 StPO). „Hier rennt der Richter zum Buffet und futtert sich durch die ganzen Getränke, Soßen und Speisen.“ Der Richter fragt und fragt und fragt, um den Sachverhalt zu erforschen.

Grundsatz der Beibringung

Im Zivilprozess gilt der Beibringungsgrundsatz. Wenn jemand will, dass der Richter entscheidet, muss er den Sachverhalt vortragen und vorlegen. In der Zivilprozessordnung, d.h. bei Streitigkeiten zwischen Bürgern, gilt dieser Grundsatz. Dieser Beibringungsgrundsatz besagt, dass das Gericht bei der Entscheidungsfindung die von den Parteien in den Prozess eingebrachten Tatsachen berücksichtigt. Hier muss der Richter nicht groß fragen, sondern muss sich primär auf das verlassen, was die Parteien vortragen. „Der Richter sitzt im Restaurant und isst das Gericht, welches der Kellner dem Richter serviert.“

Wer darf offiziell lügen?

Beispiel: Wuppertal, am 01.03.2019 geht der Angeklagte bzw. Beklagte in die öffentliche Toilette am Rathaus und beschmiert die Wände mit Filzstiften. Es handelt sich strafrechtlich um eine Sachbeschädigung. Im Zivilprozess möchte der Eigentümer der Anlage Schadenersatz für die Reinigungskosten.

Anders als im Strafverfahren, bei dem der Angeklagte oder Beschuldigte zu seinen Gunsten lügen kann, müssen die Parteien im Zivilprozess gemäß § 138 ZPO die Umstände „vollkommen und der Wahrheit gemäß“ abgeben.

Also im Strafprozess darf der Angeklagte lügen und der Richter muss immer weiter fragen. Richter: „Angeklagter, waren sie am Montag, den 01.03.2019 in der öffentlichen Toilette am Rathaus und haben dort die Wände mit einem Filzstift beschmiert?“ Angeklagter: „Nö, ich kann nicht schreiben, habe keinen Stift und trage ich Windeln. Ich war nicht auf dem Klo am Rathaus!“ Er lügt und das ist offiziell erlaubt.

Im Zivilprozess darf niemand lügen. Das wäre der Fall, falls der Angeklagte vor dem Amtsgericht von dem Eigentümer der Toilette verklagt worden wäre. Dann müsste er die Wahrheit sprechen. Falls er verklagt wird auf Zahlung von 20 € Reinigungskosten? Ob ein Beklagter die Wahrheit spricht? Erfordert, dass andere Erkenntnisquellen für das Gericht herangezogen werden.

Also: Angeklagte lügen und Parteien im Zivilprozess lügen (obwohl sie es nicht dürfen).

Zeugen sind wichtig

Wichtige Erkenntnisquellen für Gerichte sind neben Urkunden, dem Augenschein, die Zeugenaussage.

Hier fängt die Krux an. Der Zeuge kann selten den Sachverhalt wahrheitsgetreu darstellen. Oft liegt es daran, dass die Geschehnisse weit in der Vergangenheit liegen. Die Geschehnisse werden als sicher dargestellt, obwohl der Zeuge sich kaum daran erinnern kann. Zeugen sind selten objektiv, irren oder lügen.

Auch der Zeuge im Zivilprozess wird zur Wahrheit ermahnt und darauf hingewiesen, dass er unter Umständen die Aussage zu vereidigen habe (§ 395 Absatz 1 ZPO). Wie ein Richter die Zeugenaussagen würdigt, steht in seinem Ermessen (§ 286 ZPO). Der Richter entscheidet darüber ob der Zeuge glaubwürdig und ob seine Aussage glaubhaft ist. Für einen Richter ist es allerdings nur schwer erkennbar, wann ein Zeuge die Wahrheit sagt und wann er lügt.

Wieso wird die Lüge nicht erkannt?

Beginnt der Fehler in der juristischen Ausbildung? Wie werden zukünftige Richter vorbereitet? Während des Studiums wird an einem vollständig aufgeklärten Sachverhalt gearbeitet, im juristischen Vorbereitungsdienst werden ein paar Mal Zeugen befragt?

Kein Wunder, dass ein Richter das Verhalten des Zeugen und die Art der Aussage nicht richtigerweise bewerten kann. Werden Zeugenaussagen falsch gewürdigt?

Auch wenn die Zeugen nicht absichtlich lügen, ist auf das menschliche Erinnerungsvermögen nicht hundertprozentig Verlass. Wird ein Tathergang zuverlässig rekonstruiert? Vieles hängt von der Konzentration auf den Handlungshergang ab. Erinnerungslücken entstehen, verschiedene Details werden ausgelassen. Dem Richter wird damit ein verfälschtes Bild über die entscheidenden Geschehnisse vermittelt.

Das Wahrnehmungsvermögen ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Das Wahrnehmungsvermögen hängt vom aktuellen Zustand, Alter und der Konzentration auf bestimmte Geschehnisse ab. Details werden beispielsweise falsch wahrgenommen, die für die Sachverhaltsaufklärung von Bedeutung sein könnten. Die Zeugen können sich verhören, optisch täuschen, Personen und deren Namen verwechseln. Nehmen wir als Beispiel einen Verkehrsunfall. Dieser geschieht normalerweise schnell, dass ein Mensch kaum alle Geschehnisse richtigerweise erfassen kann. Vielmehr erfasst er einzelne Teile vom Geschehnis und daraus bildet er unbewusst das „Gesamtgeschehen“.

Zu diesem Thema wurden zahlreiche Forschungen durchgeführt. Sie ergaben, dass Geschehnisse, direkt von den Menschen interpretiert, oft mit anderen Umständen in Verbindung gebracht und erst dann gespeichert werden. Später werden die Geschehnisse verfälscht wiedergebracht.

Falschaussagen

Natürlich werden Falschaussagen vor Gericht strafrechtlich belangt. Erwiesen werden muss die Unwahrheit. Gerade das erweist sich als problematisch, vor allem wenn die Zeugenaussage das einzige Beweismittel ist oder es Aussage gegen Aussage steht. Dies wissen die Parteien vor Prozessbeginn und können sich darauf einstellen.

Das Problem ist in den Juristenkreisen bekannt, eine zufriedenstellende Lösung wurde noch nicht gefunden. Wie wäre eine bessere Lösung?

Fragetechniken, ob der Zeuge lügt?

Vor allem kommt es auf die richtige Fragestellung an. Zahlreiche Forschungen in diesem Bereich ergaben, dass das Fragen über Details zu einem bestimmten Geschehnis die Lügner ins Stocken bringen. Gelogene Geschichten werden chronologisch aufgebaut. Der lügende Zeuge ist gut auf die konkreten Fragen zum streitigen Sachverhalt geschult worden. Die vorbereiteten Antworten will er schnell loswerden. Bei unerwarteten Fragen zum Wetter oder Details über die Kleidung des Beklagten enttarnen sich die Lügner.

Leerfragen wie z.B. „was ist passiert?“ sollen den Zeugen dazu bringen, weitere, unbeeinflusste Auskünfte zu erteilen. Anstoßfragen bringt den Befragten auf ein konkretes Thema, z.B. „Wie ist es zu diesem Gespräch gekommen?“ Zuerst berichtet der Zeuge selber, ohne unterbrochen zu werden. Dann sollte die befragte Person die Ergänzungen fortführen. Möglichst lange sollten „W“ Fragen gestellt werden „Wer?“, “Wie?“, „Wo?“, „Warum?“, „Weshalb?“. Ob die Wahrheit gesagt wird kann der Vernehmer an der Beantwortung von Situationsfragen erkennen, indem unerwartete Fragen zu nebensächlichen Themen gestellt werden. Lügner können diese mit Mühe beantworten, sie verfügen nicht über „echte Erinnerungen“.

Ein großer Fehler: verneinende Fragen zu stellen. Lügen ist einfacher, wenn die Fragen nur mit „nein“ oder „ja“ beantworten werden. Nicht mehrere Fragen aneinander knüpfen, dadurch wird der Zeuge verwirrt und gibt nicht auf alle Fragen eine ausgiebige Antwort. „Wenn die Befragungstechnik einleuchtend erscheint, ist es auch oder vor allem für erfahrene Rechtsanwälte oder Juristen schwer, diese praktisch umzusetzen. Schließlich gestaltet sich jede Befragungssituation anders und jeder Befragte reagiert auf bestimmte Fragen anders.“

Bewertung: Schwerpunkt – Ermittlung – Beurteilung

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sollte der Richter bei der Bewertung den Schwerpunkt auf die Ermittlung der Richtigkeit der Angaben anstatt der Glaubwürdigkeit des Aussagenden legen.
„Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d.h. einem tatsächlichen Erleben entsprechen“ (BGH Urteil vom 30.07.1999 – 1 StR 618/98)
Es gibt nämlich keine Personen die generell die Wahrheit sagen oder generell Lügen. Dies nicht anhand der beruflichen oder gesellschaftlichen Reputation festgestellt werden. Die Regel ist nicht, dass die Ehefrau des Beklagten in seinem Sinne lügt.

Ein ungleiches Verhältnis bei der Prozessführung ist dann gegeben, wenn sich z.B. große Firmen und kleine Unternehmen gegenüberstehen. Große Firmen mit vielen Mitarbeitern können oft mehrere Zeugen benennen, während die kleinen Unternehmer schon als Partei im Prozess vertreten sind.

Lässt sich der Richter bei der Vernehmung von der unbewussten Sympathie oder Antipathie zum Zeugen leiten? Die Richter Wendler und Hoffmann haben laut dem Standardwerk „Technik und Taktik der Befragung“ feststellen können, dass die Sympathie, gleiche Herkunft, die Angehörigkeit zur gleichen gesellschaftlichen Schicht Auswirkungen auf die Bereitschaft haben, Aussagen weniger zu hinterfragen. Tests erwiesen, dass einem Skinhead mehr Nachfragen gestellt worden sind als einer hübschen jungen Frau, bei gleicher Aussage. Auch werden die Aussagen von Menschen aus anderen Kulturkreisen öfter mit Skepsis behandelt.

Glaubhaftigkeit – Behauptung – Aussagen

Die Frage der Motivation des Zeugen kann in die Erwägungen über die Glaubhaftigkeit des Zeugen mit einfließen (BGH in seiner Entscheidung vom 30.07.1999, Az.: 1 StR 618/98. Allerdings sollten diese Feststellungen nicht pauschal vorgenommen werden. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§286 ZPO), der besagt, dass das Gericht die Beweise ohne feste Regeln im Einzelfall zu bewerten habe, sollte nicht vergessen werden!

Als ein Indiz, dass für die Wahrheit der Aussage spricht, wird in der Rechtsprechung die Selbstbelastung anerkannt. Bewusst falsche Aussagen haben eine selbstbelastende Wirkung. Anders versuchen sich intentional falsch aussagende Zeugen vorteilhaft und positiv darzustellen.

Praktiker stellten fest, dass lügende Personen bei ihrer Darstellung übertreiben, um auf diese Weise den Richter überzeugen zu können. Einer sicher klingenden Behauptung wird mehr Glauben geschenkt als einer sich weniger bestimmt anhörenden.

In ihrem Buch weisen die Richter Wendler und Hoffmann darauf hin, dass die lügenden Zeugen begrenzt beurteilen können, ob das was sie vor Gericht geschildert haben ausreicht um das Prozessziel zu erreichen. Deswegen sagen Lügner mehr, um zu „überzeugen“. Oft spricht das „zu wenig“ gesagte für die Wahrheit. Ist es für die Richter zu wenig und sie verlangen eine „genaue Schilderung“ wird der Lügner darauf eingehen und nochmal „nachbessern“. Verzichtet der Zeuge auf diese „Ergänzungen“ kann eher von der Wahrheit der Aussage ausgegangen werden.

Ehrliche Personen sollen in ihren Aussagen Erinnerungsmängel zugeben können, während falsch aussagende Zeugen dies vermeiden. Die Körpersprache ist ein Erkenntnismittel für Richter. Dabei kommt es nicht auf die Merkmale wie Nervosität oder Vermeidung von Blickkontakt an. Vielmehr sind gerade die unbewussten Signale ausschlaggebend. Die Interpretation der Körpersprache ist in der Praxis allerdings schwierig. Manche Verhalten können mehrdeutig interpretiert werden oder andere Gründe haben. Eine Person kann aus anderen Gründen innerlich aufgewühlt sein.

Fazit:

„Als Fazit lässt sich feststellen, dass die Zeugen nicht alleine zu bezeugen brauchen, sondern überzeugen müssen.“ Der Zeuge muss eine gute, glaubhafte Aussage liefern. Der Anwalt kann hier über noch so gute juristische Kenntnisse verfügen, letztlich spielt die Beweiskraft die entscheidende Rolle und hier ist der Zeuge die Schlüsselfigur.

V.i.S.d.P.:

Dr. Thomas Schulte

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